Immer noch reden alle von Purpose – dabei hat das Werkzeug seine Berechtigung inzwischen komplett verloren. Auch angesichts der existenziellen Klimakrise ist nichts weniger angebracht als Selbstfindung und Nabelschau. Statt der Frage nach dem Sinn sollten wir uns eine andere stellen.
Jennifer Rosenberg
vor 8 Tagen
Warum wir keinen Purpose brauchen
Statt sich auf die Sinnsuche zu begeben, sollte man lieber handeln (Symbolbild)
Spätestens als wir in unserer Arbeit den Purpose eines der größten Energiekonzerne der Welt finden sollten, wurde uns klar: die Sinnsuche ist vorbei – endgültig. Über zehn Jahre sind wir – mich eingeschlossen – einem Konzept nachgerannt, das die persönliche Sinnerfüllung in den Mittelpunkt stellt.
Heute sage ich: „Fuck purpose!” Warum? Purpose, das bedeutet Sinnsuche und persönliche Selbstverwirklichung, während unsere Welt brennt: Eine tief gespaltene Gesellschaft muss die größte Krise der bisherigen Menschheit bewältigen. Wenn unsere schiere Existenz bedroht ist, ist Sinnsuche überflüssig – wir haben ihn längst: Den Planeten vor dem Untergang bewahren. Uns und der ganzen Menschheit den Arsch retten.
Die Frage „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?” wirkt da ziemlich unangebracht. In den Boardrooms haben Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusivität zu oft noch den Klang von Business-Esoterik. Sie werden als Feenstaub verstanden, den man wohl dosiert über die harten Business-Ziele streut, um für jüngere Mitarbeitende ein bisschen attraktiver zu werden. Und der Bullshit-Begriff Purpose ist nicht zuletzt schuld daran.
Was Purpose verschleiert: Nachhaltigkeit und Diversität sind harte Business-Ziele
Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusivität sind harte Business-Szenen, gerade weil der Shareholder Value in der Realität immer noch als Erstes kommt: Sie werden zur Überlebensfrage. Denn wir werden ein großes Markensterben sehen. Wer sich an die härteren regulatorischen Anforderungen global nicht anpasst, verschwindet.
Purpose passte in eine Welt der freien Märkte und der allgegenwärtigen Selbstverwirklichung. Wo aber bitteschön finden wir nach Finanz- und Klimakrise heute noch freie Märkte? Der Wind des Zeitgeistes hat sich gedreht – weil er sich in dieser existenziellen Krise drehen musste. Und der politische Regulierungsdruck wird noch zunehmen. Die ominösen ESG-Kriterien, die wir aus der Finanzwelt kennen? Nur der Anfang. Dem wird sich kein Unternehmen entziehen können.
Und gerade hier ist die Purpose-Diskussion kontraproduktiv: Denn noch immer ist die erste Station vieler Unternehmensmarken, die nachhaltiger werden wollen, der sagenumwobene Purpose. Das Ergebnis wochen- und monatelanger Purpose-Workshops? In der Regel ein Flickenteppich sich mehr oder weniger überschneidender diffuser Ziele in einer Welt, die dem Abgrund des totalen Untergangs jeden Tag näher kommt. Na bravo!
Sorry, Simon – „why“ is over
Was brauchen wir stattdessen? Beginnt mit eurem Beitrag statt mit der Sinnsuche! Sorry Simon Sinek: Why is over, start with how! Sich jetzt auf Purpose zu konzentrieren, ist wie der Philosoph auf der untergehenden Titanic zu sein. Fragt euch lieber: Was könnt ihr hier und jetzt mit eurer Marke zu einer besseren Welt beitragen? Welche individuelle Fähigkeit, Einfluss zu nehmen und etwas zu bewirken, hat eure Marke? Das ist der unternehmerische Beitrag, die individuelle Superpower – und nur darum geht es.
Denn es braucht Marken, um das Verhalten von Menschen zu verändern. Denn ob wir es wollen oder nicht: Marken haben einen enormen Einfluss auf uns. Dass die Deutschen 2021 so wenig Fleisch aßen wie noch nie, liegt natürlich nicht zuletzt an der Allgegenwärtigkeit veganer Ersatzprodukte durch Marken und Werbung. Marken sind damit auch zu politischen Akteuren geworden – selbst bei der Frage von Krieg und Frieden: Welche Marken beispielsweise ziehen sich angesichts eines Angriffskriegs aus Russland zurück und welche nicht? Mit dieser Rolle kommt Marken auch eine besondere Verantwortung zu.
Marken haben die Macht, Verhalten zu verändern. Wenn wir mal ehrlich sind, haben Unternehmen diese meistens dazu genutzt, die Welt de facto schlechter zu machen.
Ruler-Marken müssen Babyboomer mitnehmen
Wir bei Jester haben hier insgesamt fünf Rollen für Unternehmen identifiziert, um Unternehmen in diese neue Welt zu führen. Eine besonders große Verantwortung kommt dabei übrigens den etablierten, großen Marken zu, die Vertrauen in den demografisch älteren Teilen der Bevölkerung genießen und die wir „Ruler” nennen. Wer Patagonia trägt, läuft sowieso schon auf Klimademos mit und verzichtet auf Fleisch – aber der Mercedes fahrende 55-Jährige wird so nicht erreicht. Das schaffen nur die Ruler, denn nicht jede Marke kann zum Aktivisten werden. Deshalb sind Transformatoren gefragt, die Menschen mitnehmen. Das Vertrauen der Ruler kann und sollte genutzt werden, um eine Brücke zwischen den Babyboomern und der Generation Fridays for Future zu bauen.
Marken haben die Macht Verhalten zu verändern. Wenn wir mal ehrlich sind, haben Unternehmen diese meistens dazu genutzt, die Welt de facto schlechter zu machen. Statt „Kauf’ mich!” zu schreien – und damit zu Konsum aufzurufen – können sie Menschen dazu bringen nachhaltiger zu leben und zu konsumieren. Damit sollten sie beginnen – am besten gestern. Und zwar nicht nur, um die Welt zu retten, sondern ihr eigenes Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren.
Denn gute Absichten reichen nicht! Wir brauchen euren unternehmerischen Beitrag. Und wenn wir die richtigen Prioritäten setzen, die sich aus dem einzigartigen Potenzial eines Unternehmens ergeben, können Marken die Kraft hinter dem Wandel werden, den die Welt dringend braucht.
Über die Autorin
Jennifer Rosenberg ist CEO von Jester. Die Unternehmensberatung rüttelt mit der Methode „Narrenfreiheit“ Unternehmen und Marken auf und begleitet sie unter dem Motto „Consulting the New“ in eine neue Welt.