Gastartikel | Alles könnte so schön sein: Es ist Hochsommer. Die Felder sind gemäht, der Mais steht hoch, die ersten Sonnenblumen blühen. Doch Managerin Petra Golisch liegt flach. Eine ungeplante Fuß-OP zwingt sie dazu einen entschleunigten Sommer, überwiegend auf der Rückbank statt im Driver-Seat, zu verbringen. Dieser Erfahrung verdankt sie heute mehr Mut und Selbstreflexion. Sechs Learnings aus der ungewollten Sommerpause.
Petra Golisch
04. Dezember 2022
Entschleunigung wider Willen
Foto: Petra Golisch
Schritt 1: Demut und Wut liegen eng beieinander
Nach überstandener Routine-OP finde ich mich, obwohl unfallfrei, auf der Unfallchirurgie wieder. Dort lerne ich sehr schnell etwas, was mir im normalen Leben eher fremd ist. Das Phänomen heißt „Demut“ und gilt als eher altmodisch. Selbst bewegungseingeschränkt erlebe und sehe ich Menschen und Situationen, die meine eigene Lage geradezu läppisch erscheinen lassen. Diese Zusammenballung von menschlichem Leid, Schmerz und Hilflosigkeit auf einem einzigen, wenn auch endlos langen Krankenhausflur lässt in mir ein Gefühl von Dankbarkeit aufkommen, das ich aus dem „zivilen Alltag“ so nicht kannte. Das ist sie wohl, die vergessene Tugend der „Demut“. Umso mehr bemühe ich mich, alles was ich irgendwie selbst hinkriege, auch selbst zu tun und damit Pfleger:innen und Mediziner:innen nicht unnötig auf Trab zu halten.
Bei aller neu entdeckter Demut meinerseits erlebe ich aber auch Patient:innen, die beim kleinsten Bedarf oder Bedürfnis nach den Pfleger:innen klingeln und sich darüber aufregen, wenn nicht unverzüglich jemand an ihrem Bett steht. Das macht mich wütend. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten schnauze ich eine ebenso larmoyante wie fordernde Mitpatientin gnadenlos an, als sie schon wieder läuten will statt sich selbst zu helfen. – Es wirkt. Sie nimmt die Hand vom Drücker und wälzt sich erfolgreich aus dem Bett.
Aus der zweiten Reihe erscheint mir das vorbeirauschende Leben ganz anders als sonst, wenn ich eher bestrebt bin, dem Alltag immer einen Schritt voraus zu sein.
Schritt 2: Die Perspektive wechseln
Als Berufspendlerin immer in Bewegung konnte ich mir lange nicht vorstellen, in einen Zustand eingeschränkter Mobilität zu geraten. Das Home Office erweist sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus als Segen! Mein Kopf kann und darf wieder arbeiten – der lädierte Fuß wird hochgelegt und heilt aufgrund seines vorübergehenden „Reiseverbots“ auch ohne mich.
Kaum bin ich vom Fahrersitz auf die Rückbank katapultiert worden, habe ich – auch im übertragenen Sinne – den Steuerknüppel abgegeben, was einen teils freiwilligen, teils zwangsläufigen Perspektivwechsel mit sich bringt. Aus der 2. Reihe erscheint mir das vorbeirauschende Leben ganz anders als sonst, wenn ich eher bestrebt bin, dem Alltag immer einen Schritt voraus zu sein.
In meiner ungewohnten Situation habe ich viele kleine Schlüsselerlebnisse, die man in theoretischen Coachings und im Trockentraining nicht simulieren kann. Ich nutze die entschleunigte Zeit für kleine Selbstexperimente: So verschnaufe ich – nicht halb so agil wie sonst – einfach mal entspannt im Hier und Jetzt auf einer abgelegenen „Ruhebank“ im Supermarkt und lasse die gestressten Wochenendeinkäufer:innen aus der tiefergelegten Froschperspektive an mir vorbeiflitzen. Ich nehme mir vor, diese Form von „Entdeckung der Langsamkeit“ nochmals auszuprobieren, sobald ich wieder physisch „auf dem Laufenden“ bin.
Schritt 3: Hilfe bekommen und Hilfe annehmen
Eine der schwierigsten Übungen! Im beruflichen Alltag bin ich es nicht gewohnt, so häufig Hilfe (angeboten) zu bekommen, wie das in den Tagen nach der OP der Fall ist. Offenbar wecke ich mit meiner eingeschränkten Beweglichkeit bei vielen Menschen Beschützer:inneninstinkte: Noch nie zuvor habe ich so viele Hilfsangebote bekommen wie in dieser Zeit, in der ich mit dick verbundenem Fuß, der in dieser unförmigen Gehhilfe steckt, und auf zwei Krücken gestützt unterwegs bin. Ich stelle fest, dass manche wildfremde Leute eine wunderbar unaufdringliche und beiläufige Art haben, mir Hilfe anzubieten.
Da ist sie wieder, die sprichwörtliche „Freundlichkeit von Fremden“ in all ihren Facetten:
„Darf ich Ihnen helfen?“, fragt mich ein gepflegter älterer Herr im Supermarkt, als ich etwas ratlos vor der nicht-automatischen Saloontür stehe, durch die man am Eingang hindurch muss. Ist es nicht schön, dass er das Hilfs(!)verb „dürfen“ – und nicht etwa „können“ oder gar „sollen“ – wählt?!
„Warten Sie, ich helf‘ Ihnen!“, sagt, keinen Widerspruch duldend, mein Taxifahrer, noch bevor ich mich selbst von der Rückbank hoch und mit Hilfe (!) der unverzichtbaren Krücken auf den Bürgersteig gehievt habe. „Moment! Ich bringe Ihnen einen Hocker für Ihr Bein“, sagt die Kellnerin in einem Biergarten ungefragt, als ich das erste Mal nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder die Chance auf ein leckeres Essen mit richtigem Geschirr habe.
Ich könnte noch viele Dutzende von Beispielen aufzählen. Aber noch spannender ist die (Selbst-)Erfahrung, dass ich lernen muss, Hilfe nicht nur zu bekommen, sondern sie auch anzunehmen. Und dafür „Danke!“ zu sagen – und dies auch so zu meinen.
Schritt 4: Selbst um Hilfe bitten
Hilfe ungefragt (angeboten) zu bekommen und anzunehmen ist das Eine – selbst nach Hilfe zu fragen oder gar darum zu bitten etwas ganz anderes. Vieles könnte ich zwar (mittlerweile) auch „irgendwie“ schon wieder allein, aber: Fragen und Bitten kostet mich wider Erwarten tatsächlich häufig nur eins: Überwindung!
„Würden Sie mir grade mal die Tür aufhalten?“ bzw. die „Könnten Sie das mal eben für mich tun?“-Bitte in jeder Form, vorzugsweise im Konjunktiv, sind Fragen, die ich so normalerweise nicht allzu häufig stelle. Ich gewöhne es mir auch sehr bald ab zu erklären oder gar zu entschuldigen, warum ich bei etwas Hilfe brauche – die Leute sehen ja selber …
Schritt 5: „können“ und „dürfen“ ist zweierlei – und Geduld sowieso Glücksache!
Dass „können“ und „dürfen“ nicht dasselbe ist, haben wir schon gesehen, als wir vorhin über die „Hilfsverben“ sprachen. Stichwort „Geduld“: Ich muss dieser Tage teilweise im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhaft erleben, dass es Dinge gibt, die ich zwar schon wieder tun könnte, die ich aber noch nicht tun darf, um den OP-Erfolg nicht zu gefährden.
Ich bin mir ganz sicher, dass ich schon ohne Krücken gehen könnte, aber weil ich den operierten Fuß auf keinen Fall belasten soll, muss ich mich daran halten, dass ich keinen Schritt ohne diesen orthopädischen Stützschuh mache.
Ich übe mich also 1.) in Geduld und 2.) in Vernunft, wobei vor allem Erstere nicht unbedingt zu meinen hervorstechenden Eigenschaften gehört. Der namenlose graue „Klumpschuh“, mein ständiger Begleiter mit tragender Rolle, hätte sich eigentlich längst mal einen Spitznamen verdient. Dahinter steckt natürlich das Bemühen, die Dinge positiv zu sehen und auch positiv zu benennen und ihnen so eine gute Seite abzugewinnen.
Schritt 6: Not macht erfinderisch …
… und lässt uns über uns selbst hinauswachsen: Alltägliche Tätigkeiten und Verrichtungen, die ich sonst so nebenbei erledige, stellen mich zurzeit vor ungeahnte Herausforderungen:
Wie schaffe ich es, eine ohnehin vorsorglich nur halb gefüllte Kaffeetasse von der Kaffeemaschine zum Esstisch zu transportieren, ohne dass am Ende nichts mehr drin ist? – Wie kann ich duschen, obwohl ich den Fuß 1.) nicht belasten und 2.) der Verband nicht nass werden darf? Und, auch im übertragenen Sinne: Wie komme ich aus einer liegenden wieder hoch in die aufrechte Position?
Über solche Tücken eines Alltags mit „nur einem Fuß frei“ habe ich zuvor noch nie nachgedacht. Jetzt ist es mit bloßem Nachdenken nicht getan – ich muss Lösungen finden! Zum Glück fällt einem vieles ein, wenn es einem einfallen muss: Meine Treffsicherheit beim Werfen von Gegenständen von A nach B hat enorm zugenommen. – Meine Business-taugliche Bauchtasche, die ich sonst auf Messen benutze, um beide Hände frei zu haben, leistet mir hervorragende Dienste als Transportmittel für Gegenstände aller Art – und die moderne Pflegetechnik hat nicht nur für das Thema „Duschen ohne nasse Füße zu bekommen“ eine Lösung parat.
Meinen vielleicht größten Sieg über mich selbst und den inneren Schweinehund habe ich mir bis zum Schluss aufbewahrt: Jeden Abend bin ich aufs Neue über mich erstaunt und kostet es mich aufs Neue Überwindung –, wenn ich mir selbst eine Thrombosespritze setze. Ich, die ich sonst bei Spritzen immer weggucken muss, nehme eine Hautfalte zwischen zwei Finger – und steche zu.
Ich wünsche mir, dass ich ein bisschen was von all diesen prägenden und einprägsamen Erfahrungen und Bewältigungsstrategien in meine irgendwann wieder zurückeroberte, „leichtfüßige“ Normalität hinüberretten kann. Und das wird die nächste große Herausforderung sein.
Über die Autorin:
Petra Golisch ist studierte Literaturwissenschaftlerin und seit vielen Jahren in der Verlagsbranche, davon seit fast zwei Jahrzehnten in leitenden Funktionen als Programmchefin und Redaktionsleiterin. Sie gehört zum letzten Jahrgang der „Babyboomer“ und ist in Düsseldorf geboren und aufgewachsen.